
Freiheit spüren im Monument Valley (AZ, USA) 2017
Labels
Sie sprießen gefühlt aus dem Boden – Labels, Merkmalbeschreibungen, Schubladen, Kategorien.
Hochsensibel, highneed, introvertiert, gefühlsstark… etc.
Gefühlt ist die komplette Social Media Welt davon überschwemmt. Da kann man schon mal die Augen rollen. Warum braucht man für alles ein Label, eine Schublade, eine Kategorie?
Ich sage euch warum: Weil es lange Zeit nur eine große Schublade gab – nämlich die „Normalschublade“. Und wenn man da nicht reingepasst hat, dann hat man als Erwachsener und auch als Kind gedacht, man sei fehlerhaft und kaputt.
Dann hat man als Mama gedacht: Mein Kind ist fehlerhaft und kaputt. Ich muss es reparieren und normal machen. Sonst passiert das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann – Ausschluss aus sozialen Systemen.
Und so hat es begonnen, das Normalisieren. Nach Standards und Regeln, die die Gesellschaft über Jahrzehnte und Generationen als „normal“ festgelegt hat. Die Gesellschaft oder auch politische Systeme – oft nicht zum Zweck des Allgemeinwohls, sondern um den Zweck der Bedürfniserfüllung weniger machthabender Individuen.
Warum aber dann gleich Labels – ist das nicht was für Menschen, die sich hervor tun müssen? Diese Möchtegern-Individualisten?
Oder vielleicht für Eltern als Rechtfertigung, dass sie ihre ungezogen Blagen nicht im Griff haben? Ist ja leichter sich einem Label unterzuordnen, als seine Kinder zu erziehen.
Und da sitzt du dann mit deinem Kind, das nicht normal ist. Und du bist zerrissen im Inneren zwischen: „Es ist nicht ok, so wie es ist, ich muss es ändern“ und „ich kann mich doch nicht mit Gewalt gegen mein Kind stellen, das sich mit allem was es hat dagegen wehrt sich anpassen zu lassen.“
Das Leben mit meinem Kind
Und weil ich so ein Kind habe und weil ich durch einen immensen Schmerz mit meinem Kind gegangen bin und heute noch zum Teil gehe, schreibe ich diese Zeilen.
Hier ein kleiner Auszug aus dem Leben mit einem (Achtung viele Labels!): vormals High-Need Baby, jetzt gefühlstarken, hochsensiblen und introvertierten Kind.
Es beginnt in der Nacht, denn auch wenn er tagsüber kaum Nähe zulässt und sehr oft in Welten versunken alleine spielt, kann er nachts nur mit Körperkontakt schlafen. Immer noch – er ist 4,5 Jahre alt. Die erste Nachthälfte schafft er alleine, aber spätestens um 0:30 kommt er zu meinem Mann und schläft in seinem Arm weiter. Nicht daneben, nicht im gleichen Raum – im Arm, halb auf ihm drauf.
Am Morgen ist Struktur und Routine unser Lebensretter. Wenn das Kissen nicht im richtigen Winkel liegt, die Milch zu kalt ist und die falsche Bezugsperson betreut, ist es für ihn schier unerträglich. Man merkt ihm dann an, dass er hin und hergerissen ist zwischen dem Willen zu kooperieren und „sich nicht anzustellen“ und „ich kann das so nicht, es tut mir weh“. Für ihn ist es die Welt. (Erstes Mal Augenrollen und Kopfschütteln – dieser kleine Diktator)
Schwierig ist dann das Anziehen, besonders in den Übergängen der Jahreszeiten, denn das neue Gefühl von Kleidern auf der Haut oder eben nicht, ist für ihn unerträglich. Eine Hose zu finden, die nicht juckt und ein T-Shirt, das genau an der Stelle des Armes endet, wo es nicht weh tut, ist sehr sehr schwer. Es kostet manchmal mehr als 30 Minuten, Geduld und Nerven. Und ja, er würde lieber ohne Kleider gehen, als das anzuziehen, was wir dann bestimmen. (Zweites Mal Augenrollen und Kopfschütteln – wer so was als Eltern auch mitmacht)
Zeit ist sowieso sehr wichtig, um mit ihm umzugehen. Das nimmt ganz viel Druck und Stress. Auf beiden Seiten.
Ohne Zähne putzen, Gesicht waschen, Haare kämmen und anschließend wieder wuschelig zu machen das Haus zu verlassen, ist undenkbar. Strukturen und Routinen! Sehr wichtig! (Na immer hin)
Diese Strukturen und Routinen begleiten uns den ganzen Tag: Wer holt wann von der KiTa ab, welche Sendung wird im Fernsehen geschaut, auf welchem Platz sitzt man und aus welchem Glas trinkt man etc.
Ein Kind der Freiheit
Ganz wichtig für mein Kind ist Freiheit. Selbst entscheiden zu können, was er tut und lässt. Und natürlich steht das nicht immer konfliktfrei im Familienkontext. Kompromisse sind wichtig, wenn auch schwer aushandelbar.
Draußen sein, frei sein, selbstbestimmt sein und in Fantasiewelten versinken – das ist das wofür er lebt.
Und dann gibt es Momente, da sagt er „Kannst du mich bitte durch kitzeln? Ganz doll!“ Da will er Kontakt, Körpernähe, dann will er sich und mich spüren.
Um dann wieder in seine Unnähe abzutauchen – Wo er der Schöpfer seiner Welt ist.
Und ich könnte jetzt noch viele viele Situationen beschreiben, aber ich denke ihr wisst was ich sagen will. Das erste und zweite Lebensjahr hat uns die Energie unseres Lebens gekostet, sein Schlafverhalten war sehr „speziell“ – nur so viel: Man kann auch bei Minus 25 Grad abends 60 Minuten Buggy fahren… jeden Abend kann man das… Ihr habt einen Eindruck erhalten.
Am Anfang habe ich mich dagegen gewehrt. Da musste ich meine Macht ausspielen aus Angst, dass er nicht normal werden konnte. Aber tief in mir drin fühlte ich, dass ich uns und unsere Beziehung damit zerstöre. Und nun gebe ich meinem Luftkind seine Freiheiten wo immer es geht.
Und wisst ihr was?
Er kann sich dadurch entwickeln, wie es seiner Natur entspricht. Seine Nase in den Wind halten und Dinge riechen, die wir nicht riechen. Gefühle wahrnehmen, die wir noch nicht mal ahnen, das sie unserem Innern aufkommen. Stresspunkte der Familie aufspüren und sie – mittlerweile – klar benennen. Er sieht mehr in Menschen, als diese selbst über sich erkennen. So wütend er sein kann, so sehr kann er vor Begeisterung kaum seine Gefühle im Zaum halten. Es ist eine Gabe. Und ich möchte sie nicht zerstören… Nicht mit Gewalt und nicht aus Liebe.
Warum Labels gut sind
Als ich am Ende meiner Kräfte war, am Boden zerstört, ratlos und machtlos, bin ich auf diese Begriffe gestoßen: hochsensibel, gefühlsstark, High-Need etc. Habe Texte und Bücher gelesen. Und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass alles gut ist und gut wird. Labels können auch sehr viel Positives bewirken, können Gemeinsamkeiten erkennen lassen, können Balsam sein für die Seele. Zu wissen, dass ich nicht alleine bin, zu wissen, dass ich selbst so ein Kind war, zu wissen, dass alles gut wird, wenn man sich dieser Begabung öffnet, war eine Offenbarung für mich. Und wenn es das ist, was Labels bewirken, dann bitte immer her damit!
Natürlich darf man auch hier vorsichtig sein. Das Label bestimmt nicht wer wir sind, wo wir hin gehen und wie wir uns verhalten sollten. Es soll nicht als Rahmen zu verstehen sein, in dem man sich zu bewegen hat. Es ist eher wie ein Begleiter zu sehen, wie ein Fähnchen der Solidarität.
Und wer so ist und ein solches Kind hat, der sollte sein Fähnchen schwenken dürfen. Er tut es nicht aus Gründen der Selbstdarstellung, sondern oftmals eher aus blanker Verzweiflung. Also: Please Unite!
Schließen möchte ich mit einem Einzeiler, den ich für ihn geschrieben habe, als er zwei Jahre alt war:
Und es ist als würde man den Sternenstaub aus dem du gemacht bist in deinen Haaren wehen sehen, wenn du durch unser Leben fegst.
In Liebe
(eine hochsensible, introvertierte Mutter)
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